I wish us home in everyone's kitchen
Tom Waits
Glück ist das Grundbedürfnis aller Wesen. Es ist für jede und jeden jederzeit zugänglich. Ein Spaziergang im Wald, eine Pfeife am Küchentisch, während draußen der Regen fällt, es braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Heute soll es darum gehen, wie wir mit der Vorstellungskraft unser Inneres Lächeln wiederfinden. Dazu erzähle ich euch eine Geschichte. Eine Geschichte wie sie im Piekenbrock am Küchentisch in langen Nächten bei Schnaps und Pfeife erzählt wird. Im Kern unseres Wesens sind wir die Geschichten, die wir einander erzählen.
Raconte une histoire, qui finit bien
Michel Sardou
Betrachte es als Spiel! Das kommt deiner Inneren Wahrheit am nächsten. Spiele mit deiner Phantasie. Stelle dir in allen Einzelheiten einen Augenblick deines Lebens vor, an dem du so richtig glücklich warst. Du kannst auch aus den Zutaten deiner Erfahrung einen neuen Augenblick des maximalen Glücks erschaffen. Das wirkt noch stärker. Du kannst sogar deine Vergangenheit ändern, alte Wunden heilen, das verletzte Kind, das du bist, trösten. Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Mach deine Träume wahr! Es gibt nichts, was du nicht sein oder tun kannst.
Schließe die Augen! Ich zähle jetzt von Drei an abwärts. Drei: Es ist 1983. Du bist 17. Zwei: Du triffst deinen besten Freund. Er nimmt dich mit auf eine wilde Party! Eins: Du hörst die Musik schon durch die Haustür. Ihr klingelt. Null: Die Tür öffnet sich. Träum los!
Das Ende einer glücklichen KIindheit
An einem verregneten Tag im Mai. Das schönste Mädchen eurer Jahrgangsstufe hat heute Geburtstag. Dein bester Freund ist aufgeregt. Er ist verliebt. Auch du findest das Mädchen attraktiv. Die Party findet im Haus ihrer Eltern statt, die auf einer Studienreise sind. Heute, sagt der Freund, werden die Karten neu gemischt! Lachend klopft er auf deine Schulter. Mit ihrem Freund soll sie schlußgemacht haben.
Als ihr eintrefft, ist die Party schon in vollem Gange! Aus der Stereoanlage im Wohnzimmer dröhnt Abbas "Dancing Queen". Die Schönheit tanzt in einer Corona von Verehrern. Sie trägt einen pinken Petticoat zur weißen Spitzenbluse, das blonde Haar ganz auf 50er gestylt. Sie ist schön. Auch du tanzt mit den anderen um sie herum. Es geht hoch her. Ihr trinkt, tanzt, flirtet und gebt an, was das Zeug hält.
Dein Freund macht das Rennen. Dich findet das Mädchen nur nett. Irgendwann sind die beiden verschwunden. Sie hätten sich im Schlafzimmer der Eltern eingeschlossen, raunt dir jemand zu. Andere Paare knutschen und fummeln auf der Couch im Wohnzimmer. Du fühlst dich traurig. Zeit zu gehen! Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. Aus der Küche hörst du ganz andere Musik.
Don't walk away in silence
Atmosphere, Joy Division
Am Küchentisch sitzt im Schein einer Kerze ein Mädchen ganz in Schwarz und raucht. Sie hat glattes schwarzgefärbtes Haar, das über dem linken Ohr ausrasiert ist. Als du eingeschüchtert die Küche betrittst, hebt sie ihren Blick. Die Augen sind schwarz geschminkt. Ihr grüner Blick funkelt: Was willst du den hier? Aber sie erkennt, dass du traurig bist und zeigt nur wortlos mit ihrer langen weißen Hand auf den Platz schräg gegenüber. Armreifen und Ringe aus Silber klirren. Ein düsteres Tattoo lässt dich schaudern.
Ihr versteht euch auf Anhieb. Du fragst nach der Musik. Sie erzählt dir, dass Ian Curtis sich umgebracht hat. Du möchtest im grünen Meer ihrer Augen ertrinken. Ihr trinkt Jasmintee. Sie riecht nach Tabak, Patchouli und Glück. Ihr redet stundenlang. Die Zeit steht still. Ab und an kommt jemand in die Küche, um sich am Kühlschrank zu bedienen. Ihr erntet eher mitleidige Blicke.
Sie ist die Cousine der Gastgeberin. Das schwarze Schaf der Familie. Die kleine Hexe mit Hakennase. Die Dürre mit den kleinen Titten, zischeln Lästerzungen. Anstatt in die Disco geht sie samstags lieber zum Kiffen auf den Friedhof. Sie liebt Tiere und isst kein Fleisch.
Du hast dich immer gefragt, wie man das macht: Ein Mädchen zu küssen. Wie macht man den entscheidenen Schritt? Du wirst es dich nie wieder fragen. Man macht es gar nicht. Es passiert. Die Frage taucht nur auf, wenn längst entschieden ist, dass nichts passiert. Heute Nacht fragst du dich nichts. Sie wird dich küssen. Ab und an werden Leute in die Küche kommen, um sich am Kühlschrank zu bedienen. Ihr werdet es nicht merken.
Am Montag danach stehst du mit deinem Freund vor der Schule und rauchst. Stolz aber sachlich berichtet er von seinem Sieg. Du erfährst, dass die Jahrgangsschönheit überall gut aussieht, dass sie aber etwas ungehalten war, weil ihre Frisur am Morgen ruiniert war. Sie wollte auch einiges im Bett nicht tun, worauf der Freund Lust gehabt hätte. Am Morgen hätte man sich darauf geeinigt, dass es schon gewesen sei, aber bei dem einen Mal bleiben solle. Ich vermute, sagt dein Freund, dass sie das alles nur getan hat, um ihren Ex eifersüchtig zu machen. War wohl erfolgreich. Nach dem Abi, habe sie ihm erzählt, wollen beide nach Düsseldorf ziehen und BWL studieren. Er habe gehört, zuckt der Freund mit den Schultern, sie hätten sich schon gestern Abend wieder versöhnt. Naja! Hauptsache Spaß gehabt! Dann klopft dir dein Freund aufmunternd auf die Schulter. Und du, sagt er, sei nicht traurig. Beim nächsten Mal bist du der Glückliche. Du kommst gar nicht dazu, etwas zu sagen. Du willst gar nichts sagen. Du kannst es gar nicht in Worte fassen. Also nickst du nur. Die Schulglocke ruft euch in die Klasse. Dein Freund hat seine Unschuld verloren. Und du? Du hast die Liebe deines Lebens gefunden. Die Frau, mit der du Imperien gründen kannst. Spaßhaben war gestern.
Schenk mir diese Nacht
Ich hab´ so viel an dich gedacht
Wirst du da sein, wenn alle schlafen?
Wirst du meinen Schlaf bewachen?
Schenk´mir diese eine Nacht
Klaus Hoffmann
Was immer auch geschieht, was auch immer geschehen ist und geschehen wird, du kannst jederzeit wieder, wann immer du willst, diese eine Küche betreten und dich anfunkeln lassen. Raum und Zeit existieren nicht. Sie sind lediglich nützliche Illusionen, um unsere Erfahrung hier unten zu strukturieren. Ewigkeit existiert. Diese Nacht ist für immer. Schwarz ist deine Farbe. Und am Morgen betrittst du eine neue Welt. Die Pfeife im Mund schlenderst du über das noch nasse, sanft wogende Kopfsteinpflaster deiner Stadt nach Hause. Du spürst ein Lächeln tief in dir aufsteigen. Aus dem Herzen. Es verwandelt die Welt. Es singt mit den Vögeln, rauscht mit den Bäumen, funkelt mit den Sternen in den Pfützen um die Wette. Es heilt alle Wunden. Es strahlt in alle Ecken des Universums. Du kannst es im Trubel der Welt vergessen, Jahre lang nicht daran denken, aber auslöschen kannst du es nicht. Dieses Lächeln ist dein Kern. Du bist die Liebe. Alles entsteht daraus und vergeht darin. Das bist du selbst. Heute hast du es zum ersten Mal erfahren. Deine Lungen weiten sich in der kühlen Morgenluft. Der Raum in dir ist größer als die Welt. Sie liegt darin geboren. Hinter dem Förderturm der Zeche geht die Sonne auf.
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Metti (Freitag, 21 Mai 2021 10:42)
Danke für diese herausragend schöne Geschichte!
Ich werde sie im Herzen trage und mich ab jetzt öfter in die Küche des Glücks begeben. Vieleicht sieht man sich ja mal dort!
Liebe Grüße
Metti