Sind eure Pfeifen bereit? Mit Siebenmeilenstiefeln geht es durch die Wilden 80er. Ihr erfahrt, warum ich 1982 meine erste Pfeife kaufe. Wir werden an magischen Orten rauchen. Silvester in der Stube eines Bergbauernhofes. Auf einem Balkon hoch über dem Golf von Korinth. In einem mörderischen Sommer gelingt das perfekte Raucherlebnis. Wir werden der ersten Liebe begegnen, sie verlieren und finden. Wegmarken der Zeitreise werden Lieder, Bücher und Filme sein. Wir werden mit dem Leben Hohe Zeiten feiern. Rom sehen und nicht sterben.
No Future!
Mit Siebenmeilenstiefeln durch die Wilden 80er
Hattet ihr auch eine Cousine, in die ihr als Kind unsterblich verliebt wart? Sie ist drei Jahre älter als ich. Das ist für Kinder viel. Welten. Also ist sie meiner Schwester und mir immer mehrere Schritte voraus. Ein Leuchtstern. Heute nennt man das Influencer! Vorhang auf! Hier kommt meine unwiderstehliche Cousine aus Hamm! Applaus! Applaus! Applaus!
Ihr Vater, Onkel Werner, hat es weit gebracht. Er ist ein hohes Tier bei der Ruhrkohle AG. Die Familie wohnt in einem schicken Einfamilienhaus. Er spielt Tennis. Tante Brunhilde ist Deutschlehrerin. Meine Cousine kann Sonaten von Beethoven spielen. Die Urlaubsfilme zeigen Reisen zu den Pyramiden von Gizeh, zu den Überresten von Troja und nach Olympia.
Onkel Werner besitzt Aktien. Zu einer Aktiosversammlung der RWE nimmt er mich mit. Gruga Halle Essen. Catering der Lufthansa. Vor dem Eingang gibt es einen Proteststand der Grünen. Joschka
Fischer verteilt Flyer. Die Grünen haben Aktien erworben, um auf der Versammlung sprechen zu können. Die Lokalpolitiker werden gnadenlos ausgebuht. Dann tritt
Joschka Fischer an das Pult. Die Leute im Saal, allesamt politische Gegner, hören ihm nach ein paar Sätzen tatsächlich zu. Es gibt immer noch Buhrufe, zwischendurch aber auch
Applaus!
You are as dead now as you ever be
Jane Roberts, Seth
Mit Fünf sehe ich den ersten Mord. Im Fernsehen. Ich spiele mit meinen Autos. Die Eltern gucken eine Westernserie. Die Leute von der Shilo Ranch. Eine Schießerei schreckt mich auf. Etwas Ungeheures geschieht. Manolito, einer der Hauptdarsteller, wird erschossen. Was ist das? Sterben? Ich frage. Alle Antworten werfen mehr Fragen auf. Tagelang spiele ich Manolitos Tod nach. Der Bösewicht schießt, ich fasse mir an die Brust, falle von der Lehne und sinke auf den Teppich. Memento Mori. Manolitos Tod.
Fernsehen ist etwas Besonderes. Wir sind die Generation, die auf Peter Lustig hört und den Fernseher nach der Löwenzahnsendung abgeschaltet. In der Woche gibt es überhaupt kein Fernsehen. Meine Cousine hat schon Filme gesehen, für die meine Schwester und ich noch zu klein sind. Mit ihr sehen wir unseren ersten richtig gruseligen Film. Nach 23 Uhr! "Hier spricht Edgar Wallace! " Der grüne Bogenschütze läuft im zweiten Deutschen Fernsehen.
Mit meiner Cousine nehmen die 80er richtig Fahrt auf. Sie ist unser It - Girl. Wir trinken "Whiskey pur". So nennt Oma Martha, ihre Oma, Apfelschorle auf Eis. Nach dem Pflichteil jeder Feier, Kuchenessen mit den Erwachsenen, gehen wir auf ihr Zimmer. Eine Wunderwelt. Der Geruch betörend. Ich freut mich jedesmal auf dieses Zimmer. "Ich muss euch was vorspielen." Simon & Garfunkel: The Sound of Silence. Etwas Englisch kann ich zwar schon, aber es reicht nicht. Wir gehen gemeinsam den Text durch. Krebs heißt auf Enlisch "Cancer".
Einige Familienfeiern später, ein paar Jahre sind ins Land gezogen, hängt ein blaues Blatt über ihrem Schreibtisch. Ein Chancontext. Willst du es mal hören? Klar doch! Georges Moustaki singt "Nadjejda". Gänsehaut. "Un amour c´est peutêtre suffrance ... " So viel Gefühl, so viel Sehnsucht, so viel Süden. Meine Cousine ist mittlerweile eine junge Frau. Ich hänge irgendwo am Anfang der Pubertät fest. Aber mit einem Mal ist die Richtung klar. Nach Süden. Ich weiß nicht wie, aber da will ich hin. Au mediterranée!
Nous prendrons le temps de vivre, d' être libre, mon amour
1982. "Das musst du lesen: Sartre und Camus!" Auf ihrem Schreibtisch liegen Taschenbücher. Jean Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Albert Camus: Der Fall.
Was meine Cousine, also Sartre, sagt ist ungeheuerlich. Wenn Gott nicht existiert, dann sind wir selbst für unser Leben verantwortlich. Wir sind frei. Die Existenz geht der Essenz voraus. Wir erschaffen erst den Sinn. Treffer versenkt! Freiheit.
Ich fühle mich alles andere als frei. Aber ich weiß genau, welche Richtung mein Leben einschlagen soll. Moi, je suis un philosophe d' existentialiste. Camus entführt mich in eine Spelunke nach Amsterdam, spendiert einen Genèver, Jaques Brèl liefert den Soundtrack. Mit Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir sitze ich in Pariser Cafés und disputiere über Nietzsche. Um den Argumenten den rechten Nachdruck zu verleihen, muss eine Pfeife her. Ich kann ja wohl nicht der einzige Nichtraucher am Tisch bleiben. Also rufe ich Onkel Horst an. Der Rest ist Geschichte.
Moi, je suis un autre
Jetzt starten wir richtig durch! Meine Cousine hat ihren Führerschein. Mit ihrem Golf kommt sie an den Wochenenden regelmäßig nach Herne. Dann machen wir das Ruhrgebiet unsicher. Claus Peymann, der Intendant des Schauspielhauses Bochum, hat das Ruhrgebiet mit New York verglichen. Ja, politisch herrscht "Kleinklein" in den Städten, die alle nahtlos ineinander übergehen. Vom kulturellen Angebot her aber ist es eine Metropole. Unbegrenzte Möglichkeiten.
Meine Cousine ist der unumstrittene Star auf unserer Bühne. Die ganze Gang der Freunde ist in sie verliebt. Wie auch nicht? Da ist dieser Haufen pubertierender Jünglinge, die noch Mofa fahren, und dann stoppt ein blauer Golf mit quietschenden Reifen vor unserem Haus. Eine fast 1,90m große Walküre mit langen blonden Locken und einer Figur, die mittlerweile an Sophia Loren erinnert, steigt aus. Da kann schon mal die Kinnlade runterklappen.
Looking for the heart of saturday night
Was für ein Sommer. Bruce Springsteen schießt mit "Born in the USA" durch die Decke. Wolfgang Welt zerreißt Herbert Grönemeyer im Szenemagazin Marabo. Pflichtlektüre. Wegen des Veranstaltungskalenders. Ein neuer musikalischer Held betritt die Bühne meines Lebens, um sie nie wieder zu verlassen. Tom Waits.
Am Kamin in Hamm hatten wir den Boss gehört. Nebraska, Night of the Jonestown Flood. Zum Geburtstag bekam ich eine LP geschenkt. Bruce Springsteen live. Das ganze Elend mit der E - Street - Band offenbarte sich. Immer der gleiche satte Sound. Das war nicht der Mann mit der Gitarre aus Nebraska. Doch ganz am Ende sang Springsteen einen Song, der mich packte. Jersey Girl. Von Tom Waits.
Der ganze unterdrückte Schmerz, diese ungeheure Sehnsucht, diese Musik drückte es aus. Die Verzweiflung, von den Frauen, auf die es ankommt, nicht als Mann wahrgenommen zu werden. Und dann auch die zu späte Erkenntnis, die Frauen nicht erkannt zu haben, die es in mir gesehen haben, von denen ich nicht erkannt werden wollte. So viele offene Wunden.
Es waren die 80er. Kalter Krieg, Nato Doppelbeschluß, RAF Terror, Atomkraftwerke, tote Flüsse, saurer Regen, Helmut Kohl. No future! Das alles schien kein gutes Ende zu nehmen. Die Bedrohung schien real, war latent jederzeit zu spüren. Trotzdem war es auch, vielleicht auch gerade deshalb, mein Sommer der Liebe. Ich war sechzehn. Tom Waits schreibt den Soundtrack.
Um ein Haar hätte Wolfgang Welt Lou Reed in Amsterdam interviewt. Wir hätten um ein Haar Chet Baker im Domizil live gesehen. Auf dem Programm des Jazzclubs, das ich beim ersten Besuch mitnahm, war er abgebildet. Einen Monat vorher hatte er dort gespielt. Kurze Zeit später starb er. Er war eine Kerze, die von beiden Seiten brannte. Zuviel harte Drogen. Zuviel Gefühl! Wenn dieser Trompeter sang, fingen selbst Steine an zu weinen. Harte Drogen habe ich niemals ausprobiert. Wohl wegen Chet Baker. Ich war mir instinktiv bewusst, hochgradig gefährdet zu sein. Diese Lust am Verlieren.
Das Domizil befindet sich auf der Leopoldstraße in Dortmund, im Keller eines Kindergartens, unweit von Rotlichtviretel und Bahnhof. Ein Geheimtipp. Jazz ist der Soundtrack der Freiheit. Als die Salsaband Candela dort spielt, sind gefühlt mehr Musiker als Zuschauer da. Das Domizil ist klein, eng und natürlich verraucht. Wer braucht schon harte Drogen? Neben mir sitzt eine blonde Walküre und zieht die Blicke auf uns.
I remember us laughing and drinking. Nothing feels better than blood on blood. Taking turns dancing with Maria, as the band played night of the Jonestown flood
Der Winter der Liebe
1982 verbringen wir den Winter bei der Familie Rebhandl auf dem Schredlhof in Windischgarsten, Oberösterreich. Mit wenigen Ausnahmen sind wir seit 1977 im Sommer und Winter dort. Ferien auf dem Bauernhof. Bergwandern und Bergseebaden im Sommer, Bergwandern und Skifahren im Winter. Oft begleiten uns Freunde. Die Familie sowieso. Tante Ilse reist mit uns. Nach Weihnachten kommen die anderen Gäste. Die Famile aus dem Rheinland mit ihren drei Kindern kennen wir schon von früher. Wir Kinder haben schon oft miteinander gespielt. Wilde Indianer auf dem Kriegspfad. Die jüngste Tochter ist in meinem Alter. Das Wiedersehen wird eine Überraschung. Wir sind keine Kinder mehr. Ich verliebe mich. Jede Sekunde möchte ich in ihrer Nähe sein. Keinen Augenblick verpassen. Abends spielen wir mit unseren Geschwistern Karten in der großen Stube, quatschen, lachen. Ich entdecke, dass ich zeichnen kann. Ob ich ihr Asterix und Obelix zeichnen könne. Klar, sage ich. Sicher bin ich nicht. Ich kopiere die gallischen Helden freihändig. Es gelingt.
Ich traue mich nicht, es ihr zu sagen. Manchmal bin ich kurz davor, aber dann taucht ihr Bruder oder meine Schwester auf, und ich lasse es. Die Liebe durchdringt mich. Ich bin mit nichts anderem beschäftigt als sie zu lieben. Egal, was ich tue, ich liebe sie. Alles was geschieht, das Skifahren, das Wandern, Essengehen, alles geschieht in der Liebe.
Ich beginne Tagebuch zu schreiben. Nachts auf meinem Zimmer. Ich möchte alles festhalten. Jedes ihrer Worte, die Art wie sie ihr Haar getragen hat. Alles.
Ich selbst merke nicht, wie sehr ich mich verändere. Dazu bin ich zu sehr und ausschließlich mit lieben beschäftigt. Mutter merkt es: "Du hast dich verändert." Ich bin überrascht. Es ist doch mein Geheimnis. Ich habe es niemandem gesagt. "Wie denn?" frage ich. "Na ja, du bist so ruhig, ausgeglichen. Immer gut gelaunt. Das ist richtig angenehm." In der Pubertät muss ich wohl ein ziemlich mürrischer, übelgelaunter Teufel gewesen sein.
Ich trage einen Schatz in mir. Wann immer ich will, kann ich meine Augen schließen und 1982 in der Stube des Schredlhofs Silvester feiern. In einer alten Pfanne wird auf glühenden Kohlen aus dem Küchenofen Weihrauch verbrannt. Wir ziehen als Prozession durch alle Räume des Hofes, durch den Stall. Der Sohn des Bauern mit der Pfanne voran. Vater fächelt mit einem Filzhut den Rauch in alle Ecken. Mutter versprenkelt mit einem Tannenzweig großzügig Weihwasser. Die bösen Geister haben keine Chance. Der goldene Eber, Gulinborsti, hat im Auftrag der Großen Mutter, ihren Sohn, das Sonnenkind, längst aus der Unterwelt befreit. Alles wird wieder gut werden. Zurück in der Stube hält jeder und jede den Filzhut dreimal über den Rauch und setzt in auf. Dann wird gefeiert. Der traditionelle Schweinskopf wird serviert, Most und Selbstgebrannter werden getrunken. Krambambuli gemacht. Es wird gelacht und gesungen. Neujahr stoßen wir mit Sekt an und umarmen uns.
Alle sind zu Bett gegangen. Ich sitze am Kachelofen in der Stube und rauche. Für diese Stunden hat Alfred Dunhill den Early Morning Pipe gemacht. Mein ganzes Wesen, die ganze Welt ist von Liebe erfüllt. Im Fenster flackert das Ewige Licht. Blau kündigt sich der Morgen des neuen Jahres an. Das unentdeckte Land. 1983.
Der Schredlhof ist ein Ort der Kraft. Wenn im Garstnertal eine Kälbchen bei der Geburt Schwiergkeiten machte, wurde nicht der Tierarzt sondern der Schredl gerufen. Egal wie verpickelt man dort ankam, am Ende des Urlaubs war die Haut rein.
Eine Schamanin sieht es in der Trance: Ich liege auf einer Bergwiese in Mitten duftender Kräuter. Ameisen heilen die Nerven in meinem Bein. Ich wusste gar nicht, dass da was nicht stimmt. Die Ameisen finden immer was. Ein Gänsegeier kreist über mir. Er schickt drei Strahlen smaragdgrünen Lichts in mein Herz. Die Schamanin fragt, ob sie mich zurückholen soll, als ihre Arbeit getan ist. Der Geier antwortet: "Lass ihn noch eine Weile da liegen. Es tut ihm so gut!"
Ein Mörderischer Sommer
Isabell Adjani tritt aus der Scheune. Nackt und herausfordernd steht sie im gleißenden Licht der Provence. Der Film von Jean Becker, Ein mörderischer Sommer, macht sie zum Star. Bis zum Ende der Sommerferien ist Isabel Adjani die schönste Frau der Welt.
Es gibt Ereignisse, die alles in ein Vorher und nachher unterteilen. Mit dem Mörderischen Sommer werde ich endgültig zum Pfeifenraucher. Ohne dieses Erlebnis wäre es wohl nicht mehr als die Attitüde geblieben, als die es begann. Ich rauche schon seit einem Jahr Pfeife. Der Umgang mit Pfeife, Tabak und Feuer ist mir vertraut. Alle bisherigen Erfahrungen kulminieren in einem Quantensprung.
Was ist passiert? Ich schaue mir den Mörderischen Sommer auf Video an. Ohne groß darüber nachzudenken, greife ich zur Stanwell. Weil mich der Film fesselt, muss ich mehrfach nachzünden. Ohne es zu merken, unterlasse ich das ständige Paffen. Irgendwann brennt die Pfeife stetig, gelegentlich ziehe ich. Ein Rhythmus stellt sich ein. Als der Film nach über zwei Stunden zu Ende ist, rauche ich noch immer. Das letzte Drittel der Pfeife schmeckt himmlisch. Das Nikotin sorgt für sanfte Schauer ...
Geht lieber nicht mit mir ins Kino. Einer meiner Lieblingsfilme ist die Kommödie "Cousin, Cousine", Jean - Charles Tacchella, 1975. Der Film spielt fast ausschließlich auf Familenfeiern. Wen wundert's noch? Das Filmereignis der letzten Zeit war "Portrait einer jungen Frau in Flammen". Ein Meisterwerk von Céline Sciamma, 2019. Eine Malerin mit braunen Locken sitzt nackt vor einem Kamin und raucht Tonpfeife. Auf einer Insel im Mittelmeer tut sich im 18. Jahrhundert ein Zeitfenster auf. In Mitten einer Welt der Zwänge ein kurzes Gastspiel der Freiheit. Das zarte Erwachen einer großen Liebe. Das ist Kino. "Die Liebenden" von Loius Malle. Die Handlung von "Call me by your name" spielt 1983. Noch Fragen?
Am ersten Schultag nach den Sommerferien schlägt die Bombe ein. Ich stehe mit den Freunden auf dem Schulhof. Da kommt sie mit zügigen Schritten daher, schlengelt sich durch die Menge und verschwindet im Schulgebäude. Braungebrannt vom Urlaub, wehendes Haar. Ich kenne sie. Sie spielt in der Mädchenmannschaft unseres Basketballvereins. Ich hatte schon mehrfach daran gedacht, mich mit ihr zu verabreden. Natürlich nicht getraut. Ich im Kreis der Mannschaftskollegen, sie im Kreis der Spielerinnen. Unmöglich. Wenn wir uns in der Schule auf dem Flur begegnet sind, haben wir uns freundlich gegrüßt. Dass sie schön ist, wusste ich auch schon vorher, aber an diesem Morgen schlägt die Liebe ein. Mit aller Macht.
Sie ist eine Jahrgangsstufe über mir, da sie im Januar, ich im Oktober geboren wurde. Wenn ich sie auf dem Schulhof sehe, ist mein Tag gerettet. So weit so vertraut. Wenn wir uns beim Training oder auf dem Schulflur begenen, grüßen wir uns freundlich. Mann kennt sich. Jedes "Hallo" trage ich nachts emphatisch in mein Tagebuch ein.
Viens, je suis lá, je n' attends que toi
So kann es nicht weitergehen. In Romanen schwören die romantischen Helden in meiner Lage, sich umzubringen, wenn sie nicht wagen sollten, der Angebeteten ihre Liebe bei nächster Gelegenheit zu gestehen. Das alberne Schwören lasse ich, aber ich fasse einen Entchluss. Ich werde sie ansprechen. Ich werde nicht vor ihr niederknien und meine Liebe gestehen. Ich werde es mit einem Gespräch probieren. Sie kommt mit dem Fahrrad zur Schule. Samstags hat sie vier Stunden.
Schicksalstag der Deutschen ist der 8. November. Meiner ist der 19. Ich war immer schon etwas spät dran. Es ist ein eiskalter, strahlend schöner Tag. - 1°C, Sonnenschein. Ich habe drei Stunden Schule, Latein fällt aus. Mutter habe ich gesagt, dass sie mich nicht abholen müsse. Trotzdem stehe ich nach der dritten Stunde vor der Schule an der Straße wie jemand, der darauf wartet, abgeholt zu werden. Mein Atem kondensiert. Ich spüre keine Kälte. In 45 Minuten wird sie frei haben. Ich spreche meine Gebete. Ich sage meine Versprechen: "... und wenn du sie siehst, grüß´sie von mir!"
Als die Schulglocke Big Ben imitiert, gehe ich um das Schulgebäude zum Fahrradständer. Mein Herz schlägt laut. Sie kommt. Wir begrüßen uns. Und ich sage etwas über das letzte Spiel unserer Mannschaft, etwas stockend, aber das Wunder geschieht: Wir unterhalten uns. Einfach so. Als sie ihr Rad genommen hat, wartet sie. Ach so, sage ich. Ich bin heute gar nicht mit dem Rad da. Montag wieder. Ich begleite sie zum Schultor. Wir verabschieden uns freundlich. Bis Montag! Sie steigt auf. Ich sehe ihr nach. Ihre langes Haar im Wind.
Von nun an fahre ich bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Schule. Wir treffen uns am Fahrradständer, wir reden in den Pausen miteinander, beim Training. Ich melde mich freiwillig zum Kampfgericht bei den Heimspielen der Mädchenmannschaft. Ihr verschwitzten Körper ...
Wir treffen uns mit anderen zum Kaffee bei Tschibo oder im Café Sonnenschein. Wir gehen auf das Konzert von GSG - 9, einer Punkband, in der ein Kumpel vom Basketball Bass spielt. Ein Schock. Ich der einzige in Cordhosen. Pogo! Durch die Wange gestochen Sicherheitsnadeln. Wahnsinn! Wir sind am Puls der Zeit. Underground.
Als sie einen Bänderiss hat, besuche ich sie fast täglich im Krankenhaus. Ich begleite sie auf den Heimwegen mit dem Rad. Ich schreibe Gedichte, traue mich aber nicht, sie ihr zu widmen. Ich schenke ihr aber die gesammelten Werke. In einem Schnellhefter. Mit dem Füller handgeschrieben. Sie ist beeindruckt. Ich wäre der erste Dichter, den sie kennengelernt hätte. Einmal lädt sie mich zu sich nach Hause ein. Wir trinken mit ihren Eltern Kaffee, hören dann Musik auf ihrem Zimmer. Im Januar bin ich auf ihrer Geburstagsparty eingeladen.
Ein halbes Jahr lang gehöre ich zum festen Kreis ihrer Freunde. Dann distanziert sie sich. Auf einer Busfahrt, bittet sie mich, sie nicht zu begleiten. Ich bin so geschockt, dass ich am Bahnhof nicht umsteige. Sie schmollt. Schweigt die ganze Fahrt lang. Ich fühle mich hilflos. An ihrer Haltestelle steigt sie wortlos aus. Ich bleibe sitzen. Ein freundlicher alter Mann sagt zu ihr: " Ach, sei doch nicht so!"
Wenn wir uns am Fahrradständer treffen, beim Training, grüßen wir uns immer noch freundlich. Wir reden immer noch miteinander. Aber es gibt keine Verabredungen mehr. Ich gehöre nicht mehr zum inneren Zirkel. Jedes "Hallo" trage ich nachts als schmerzvollen Stich in mein Tagebuch ein. 1985 macht sie Abitur und beginnt eine Banklehre. Wir haben uns nie wiedergesehen.
Damals verstehe ich nicht, was falsch gelaufen ist. Sie war doch interessiert. Sie hat mich doch zu sich nach Hause eingeladen. Im Nachhinein weiß ich, dass dies der Wendepunkt gewesen sein muss. Statt sie zu küssen, habe ich Musik gehört und gelabert. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, so lange, dass ich nicht merkte, dass er da war. Ich habe weiter gewartet, ohne zu wissen, dass er längst vorbei war. Wenn man jung ist, weiß man nicht, wann man verloren hat.
Wenn ich mich selbst quälen will, dann stelle ich mir vor, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, unser Leben, wenn ich kein Junge, sondern ein Mann gewesen wäre. Wenn ich sie in den Arm genommen und geküsst hätte. Selbst wenn ich mich getäuscht hätte, hätte ihr "Nein" mir viele Qualen erspart. Ich habe ihr nie gesagt, wie sehr ich sie liebe. Wie schön sie ist. Wie betörend sie riecht. Dass sie mich zum Dichter gemacht hat.
You & Me
Out in the fields 'till sunrise
There' s nothing to do but diving
Diving into your dew
In dem wundervollen Roman von Stephen Vincinzay, Lob der erfahrenen Frauen, erklärt es die erfahrene Geliebte ihrem jungen Liebhaber so: Die Antwort steht immer schon vorher fest. Da kann man auch einfach fragen. Es herausfinden. Manchmal denke ich, am Besten wäre es gewesen, damals am Fahrradständer vor ihr niederzuknien und um ihre Hand anzuhalten. So oder so. An jenem 19. November, nur drei Stunden Schule, Latein fiel aus, habe ich mein Versprechen gehalten.
Wir schreiben das Jahr 1984. Die zweiwöchige Klassenfahrt der Oberstufe geht nach Rom. Die antiken Bauwerke, vormittägliches Pflichtprogramm, sind natürlich beeindruckend, aber wirklich faszinierend ist das pulsierende Leben der ewigen Stadt, in das wir uns bis spät in die Nacht ohne Begleitung der Lehrer stürzen dürfen. In Rom feiere ich meinen 18. Geburtstag. Immer noch weit davon entfernt, frei zu sein. Der Mann zu sein, den ich in mir trage. Aber ich komme ihm näher. Das italienische Gefühl, dieser Sinn für Stil und Lebenskunst, hat mich infiziert.
La Dolce Vita
Wenn etwas typisch Deutsch ist, dann wohl die Liebe zu Italien. Es ist etwas anderes, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen, als es nur im Fernsehen zu sehen. Das Forum Romanum war viel kleiner als auf den Fotos im Lateinbuch, Michelangelos Moses viel gewaltiger als auf den Bildern im Geschichtsbuch. Ein Besuch in der Sixtinischen Kapelle lohnt nicht. Es dauert Stunden, bis man in einer Schlange aus Touristen dort ankommt und weitergedrängt wird. Vom Boden aus kann man die Fresken kaum erkennen. Da ist jedes Buch besser.
Rom ist woanders. Wenn du den Vatikan verlässt und durch die engen Gassen Trasteveres schlenderst, kannst du es finden. Auf der Terrasse eines kleinen Restaurants. Der Wirt schenkt Wein aus einem Tonkrug nach. Eine atemberaubende Schönheit, frisch einem Modemagazin entsprungen, stökelt vorbei und wirft dir über die Schulter noch einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ihr Auftritt gelungen ist. Das ist Rom.
Abends triffst du die Tramper aus aller Welt an der Spanischen Treppe. Gitarrenmusik, Gelächter, Tanz. Du schmeißt Münzen in den Trevibrunnen. Ist es der Wein? Es scheint das Paradies zu sein. Das friedliche Zusammenleben aller Menschen ist doch möglich! Jetzt! Hier! Das ist Rom!
Du lernst die echte italienische Küche kennen. In einer der kleinen Gassen in der Nähe des Trevibrunnens stehen unter zwei Arkaden Tische und Stühle. Kein Schild weist den Ort als Ristorante aus.
Der alte Wirt will gerade schließen. Es dämmert. Der lange Tag hat euch fußlahm und hungrig gemacht. Der Wirt sieht euch. Mit einer Geste lädt er euch ein, sein kleines Restaurant zu betreten. Es
ist eine düstere Katakombe. Rohes Mauerwerk. Sandstein. Vier Tische. Er stellt zwei für euch zusammen und zündet Kerzen an. Im Hintergrund öffnet sich eine Tür zur hellerleuchteten Küche. Die
Frau des Alten räumt dort auf. Er ruft ihr etwas zu. Der Wirt spricht kein Deutsch, kein Englisch, kein Französisch. Kein Problem. Alles geht mit Gesten. Was nun folgt wirst du dein Lebtag lang
nicht vergessen. Keine Nudeln, keine Pizza. Es gibt Brot, gegrilltes Lamm, Hühnchen, Fisch. Salat, Oliven, Schinken Schafskäse, Melonen, Trauben und Käse, Käse, Käse. Die Weingläser werden stetig
aufgefüllt. Der Wirt verschließt die Eingangstür. Das Mahl geht weiter. Der alte Mann hat sichtlich Freude. Du hast noch nie ein solches Mahl gegessen. Du speist wie Marc Aurel. Wie ein
Römer! Und was kostet der Spaß? Einen Appel und ein Ei. Zum Aschied umarmen uns die Wirtsleute. Unter der Arkade ihres kleinen Restaurants stehen sie Arm in Arm
und Winken uns nach. Das ist Rom.
Wir waren in der Villa "Claudia" untergebracht, einer etwas verlotterten, aber symphatischen Reisegruppenherberge, gegenüber der Arabischen Botschaft, in der Nähe der Via Barbarini. Unser Tag begann mit einem Espresso im Straßencafé an der großen Kreuzung, wo wir auf den Bus ins Zentrum warteten. Wir wetteten, wie viele Autos der Feuerwehr oder Polizei folgen würden, wenn sie mit Blaulicht über die rote Kreuzung fuhren. Mindestens drei! Verkehrszeichen waren eh nur vage Vorschläge. Über grüne Fußgängerampeln kam man nur, wenn man zu Boden blickte und einfach ging. Dann hielten die Autos. Sah ein Fahrer, dass man ihn gesehen hatte, fuhr er auch bei Rot. O Tempora! O Mores!
Nach einer Woche färbt das Lebensgefühl langsam auf unsere Reisegruppe ab. Die Mädchen beginnen sich freizügiger zu kleiden. Die Jungen werden mutiger. Es knistert. Ich entdecke, wie aufregend eine Klassenkameradin auf einmal ist. Sie gehört zu den Unerreichbaren, hat Zuhause einen tollen Freund. Gerade deshalb bin ich mutig. Nur so zum Spaß. Kann ja nix passieren. Zum ersten Mal in meinem Leben flirte ich spielerisch mit einer attraktiven Frau. Und sie flirtet zurück. Carpe diem!
Wir besuchen zusammen die Villa d' Este vor den Toren Roms, wandeln im Schatten der Bäume durch den Park, sitzen im Gras und hören den Wasserspielen zu. Dolce fa niente. Rom liegt uns zu Füßen. Es ist ein Quantensprung. Ich erlebe, was das Leben sein kann. Großartig und wunderbar. Chaotisch und wild. Frei. Und immer mit Stil.
Sie wollen nur unser Bestes, aber das kriegen sie nicht!
Mein bester Freund Frank und ich rauchen einen Joint. Wir sind auf der Suche nach Erfahrung. Eine Kerze brennt im Zimmer. Musik aus der Stereoanlage. Ich merke nichts, sage ich, lasse mich tief in die Couch sinken und schliesse die Augen. Plötzlich öffnet die Musik den Raum. Er ist viel größer und weiter als das kleine Zimmer. Jedes Instrument kann darin lokalisiert werden. Bilder tauchen auf. Romantische Landschaften. Walküren tanzten. Auf den Schwingen der Musik bereisen wir die innere Welt, in der alles seinen Ursprung hat. Nicht die Seele ist im Körper, der Körper ist in der Seele! Es ist eine kopernikanische Wende. Plötzlich kreist die Erde um die Sonne. Der Körper ist nichts anderes als die Wahrnehmung eines unendlichen Bewußtseins. Tat tvam asi.
Anders gesagt: Wir waren ganz schön breit.
Rien n´a changé et pourtant tuot est différent
Trost spendete die Musik, die Philosophie, die Freunde und natürlich meine Cousine. Unsere Streifzüge durch das Nachtleben. Frühstück in Amsterdam. Konzerte. Peter Hammill in der Zeche. Tom Waits in Down by Law von Jim Jarmusch ...
Mit Siebenmeilenstiefeln durch die 80er. Das bleierne Jahr Bundeswehr überspringe ich lässig. Weil die Welt am Abgrund taumelt, packten wir das Leben beim Schopf.
Jede Ära endet. Ian Curtis ist tot. Tante Annegret und Tante Brunhilde sterben an Krebs. Meine Cousine verliebt sich in einen viel älteren Mann. Ein Manager. Genf. Eine ganz andere Welt. Mit Charlet in den Bergen. Die ganz feine Gesellschaft. Ich empfinde es als Verrat. In selbstverständlich vollkommen unangemessener Eifersucht schreibe ich ihr betrunken einen bösen Brief. Es kommt zum Bruch. Ihre Verlorenheit in diesem spießigen Hamm habe ich erst später begriffen. "Ich bin doch nur von alten Leuten umgeben", hat sie meiner Mutter einmal traurig gestanden. Auf ihre Art hat sie den Weg von Onkel Werner fortgesetzt. Ganz nach oben. Das natürliche Habitat der Walküren.
I see you there with a rose in your teeth, just one more thin gypsy thief
1989. Die Mauer fällt. Die Geschichte endet. Einen Augenblick lang. Es gibt wieder eine Zukunft. Ich studiere Germanistik und Philosophie in Bochum. Neue Menschen treten in mein Leben. Partytime. "Hat dein Vater eine Gyrosbude oder eine Flickschneiderei?" frage ich Odisseas. Seine Blicke funkeln. Ich fürchte um mein Leben. "Mein Vater ist Schneider!" Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Sein Vater hat nicht nur eine Schneiderei, sondern auch ein feudales Ferienhaus in Kato Diminio am Golf von Korinth. Der Sommerurlaub ist geplant. In den Semesterferien geht es in klapprigen Wagen via Autoput nach Griechenland. Ins Herz des Südens.
Il y a un bel été, qui ne craint pas l' automne
Kato Diminio ist ein kleiner Flecken am Golf von Korinth. Keine Touristen. Hier leben Griechen. Im Sommer kommen alle, die in den Städten arbeiten, nach Hause, um die Ferien mit der Familie zu verbringen. Unsere wilde Horde kommt nur von weiter her. Wir bewohnen das Haus des angesehen Schneiders Georgiou, der in Deutschland sein Glück gemacht hat. Sein Sohn ist nach Hause zurückgekehrt und hat seine Freunde mitgebracht. Wir gehen in die Cafés und Bars der Einheimischen. Auf den Markt. Tanzen auf dem Kirchenfest im Kreis. Eine Freundin der Familie aus Athen schließt sich uns an. Vier Wochen lang genießen wir einfach das Leben. Wir leben von gegrilltem Lamm und Griechischem Salat. Trinken Campari und Wein.
Wenn alle schlafen, sitze ich auf dem Balkon, rauche meine Pfeife, höre Tom Waits und schaue aufs Meer. In der Ferne, am anderen Ufer des Golfs, blinken vereinzelt Lichter. Jedes ein Haus, ein Mensch, eine Familie, eine Geschichte. Über allem die Sterne. Da ist so viel Sehnsucht in mir. So viel Hunger nach Leben. Eines dieser Lichter muss doch das grüne Licht am Ende von Daisy's Dock sein. Ich habe es immer noch nicht gefunden. Der große Gatsby hat es gefunden. Genutzt hat es ihm wenig. Es war alles, was ihm blieb.
Ich mache mir ein neues Versprechen. Ich werde das Leben auskosten. Den Krug bis zur Neige leeren. Ich vermähle mich mit dem Leben. Ich werde Dichter sein und es in meinen Worten besingen. Ich werde Sänger sein und es in meinen Liedern feiern. Ich werde Tänzer sein und es in meinen Armen wiegen. Ich wede ein großer Liebender sein und die Liebe in die Welt bringen. In dieser Nacht zünde ich ein grünes Licht an. Es leuchtet an meinem Steg.
Smaradgrünes Meer
Ein zeitloser Augen - Blick
Ich öffne dein Haar
Vor dem Löwentor
Einmal nur lieben: Immer
Unsterblich Lächeln
Nach vier Wochen mutieren wir doch zu Touristen. Wenn man schon in Griechenland ist, muss man sich die alten Steine auch angucken. Die Klassische Antike hat im Schulunterricht breiten Raum eingenommen. Der Trojanische Krieg. Die Legenden des Klassischen Altertums stehen Zuhause in der Bibliothek. Ich hatte sie als Kind verschlungen. Die Irrfahrten des Odysseus hatte ich als Europa Hörspielplatte.
Also machen wir eine zweiwöchige Rundreise zu den Orten mit den magischen Namen. Es geht im Uhrzeigersinn rund um den Pelepones. Epidauros, Navplion, Mykene, Olympia. In Kalamata kann man noch Spuren des großen Erdbebens sehen. Im Hafen von Navplion bringt der Kellner die Pommes, die Bratkartoffel sind, noch vor den Getränken mit der Entschuldigung, dass sie noch heiß wären. Der Fisch schmeckt himmlisch. Nicht nach Fisch, so frisch ist er.
Tagsüber stapfen wir in der Glut des Sommers durch die Backöfen der antiken Stätten, brauchen viel Phantasie. Die Abende verbringen wir am Strand, bevor wir erschöpft in unsere Zelte kriechen.
Am südlichsten Punkt unserer Reise, einem der Finger des Pelepones, übernachten wir am Strand. Hinter dem Horizont liegt Afrika. Schräg davor Kreta, wo die Griechen noch ein bisschen griechischer sind als eh schon.
Damals ist das Mittelmeer noch kein Massengrab. Wir konnten noch glauben, Teil einer Zivilisation zu sein, deren Wiege wir besuchen. Wir sind stolze Europäer. Am Morgen treiben keine Toten an. Man muss nur auf Seeigel achten.
An jedem Souvenirladen, an jeder Touristenattraktion, auf jedem Campingplatz ist ein Buchständer komplett für "Alexis Sorbas" reserviert. Als grünes Taschenbuch. In allen Sprachen. Anthony Quinn auf dem Cover. Der griechischste aller Griechen ein gebürtiger Mexikaner. Den Roman von Nikos Katzantzakis habe ich erst nach dem Urlaub gelesen. Mich begleitet ein anderes Buch. Kassandra von Christa Wolf. Kassandra, der niemand glaubt, als sie den Untergang von Troja voraussagt. Agamemnon, der König von Mykene bringt sie als Kriegsbeute zurück in seine Heimat. Kassandra, die in Mykene hingerichtet wird. Kassandra, die die Sehergabe erhält, indem der Gott Apoll ihr im Traum als als Wolf erscheint und in den Mund spuckt.
Christa Wolf erinnert mich in ihrem Stil an Hemmingway. Eine verlorene Generation deutscher Schriftsteller. Ich habe die Erzählung 1982 gelesen. Sie hat das Lebensgefühl der Zeit, mein Gefühl, ausgedrückt. "Das Licht der Stunde eh die Sonne untergeht." Kassandra war wie ich. Eine Außenseiterin. "Sehen es die anderen nicht?"
Was das Buch bis heute so aktuell macht, ist der Gegenentwurf zur männlichen Kriegslogik. Die Welt der Frauen. Die kenne ich aus der Küche in Herne. Es bleibt nicht bei der Analyse. So ist es. Es wird auch gesagt, wie es sein könnte. Das macht die Erzählung so stark. Auf die besseren Zeiten warten? Nein! Einfach anfangen, vor den Toren der Stadt, jenseits des Systems, anders zu leben. Jetzt. In der Stunde bevor die Sonne untergeht.
"Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt." 1989 stehe ich da. Die Löwen haben keine Köpfe mehr zum Schauen.
Heinrich Schliemann hat in Mykene mehrere Schichten ausgegraben. Da ist die historische Burg des Agamemnon. Uralt. Drumherum jüngere Gebäude aus der Klassischen Zeit. Ein Touristenzentrum der Antike. Damals schon sind die Leser von Homer auf den Spuren der Ilias nach Mykene gepilgert.
Nach der Rundreise machen wir unseren Gegenbesuch in Athen. Die Familie der Freundin, die uns besucht hatte, lädt uns ein. Das Nationalmuseum ist Plicht. Abends jedoch geht es ins Nachtleben. Nicht das der Touris. In das der jungen Athener. Bei Lefteris, einem kleinen Schuppen, spielen Bands, die es noch nicht geschafft haben. Lefteris begrüßt uns persönlich, als wären wir auf Staatsbesuch. Der Laden ist brechend voll. Ein paar Rocker erheben sich von ihren Plätzen direkt an der kleinen Bühne. Wir müssen uns setzen. Es ist eine Ehre. Die erste Runde geht aufs Haus. White Russians. Wir bleiben dabei, rauchen Karelia Filtro. Die Band covert Janis Joplin.
Andernstags soll es auf die Akropolis gehen. Odisseas muss hinauf. Auch die in Deutschland lebenden Griechen sind griechischer als die Griechen in Griechenland. Mich schreckt der Backofen da oben ab. Vor allem das dichte Gedränge der Touristen. Während die anderen ihrer bildungsbürgerlichen Pflicht nachkommen, machen ich mit Anna, der Tochter unserer Gastgeber, Monastiraki, den Hippiemarkt zu Füßen der Akropolis, unsicher. Ich möchte mir ein Andenken kaufen, das mich für immer an diese Zeit erinnert. Einen Hochzeitsring für die Vermählung mit dem Leben. Für das Versprechen, das ich ihm gegeben habe.
Ein Händler für Silberwaren hat das passende Stück. Anna spricht auf griechisch heftig auf ihn ein. Der Händler gibt nach. Anna überreicht ihn mir. Ein Cartier Ring, drei ineinander verpflochtene Ringe. Das perfekte Symbol. Ich habe ihn nie wieder abgelegt.
Auf dem Festland geht es weiter nach Delphi. Das Orakel von Delphi. Erkenne dich selbst. Spät in der Nacht kommen wir auf einem Campingplatz in der Nähe an. Am Morgen werde ich von ohrenbetäubenden Lärm geweckt. Es ist 10 Uhr. Vor dem Zelt sitzen die anderen mit Ringen unter den Augen und trinken Kaffee. Neben dem Campingplatz starten einmotorige Flugzeuge, um Felder zu besprühen. Das geht schon seit sechs Uhr so, erfahre ich. Den guten Schlaf habe ich von Mutter geerbt.
Nach einem Abstecher zu den Felsenklöstern von Meteora geht es die Küste hinauf bis Iguminitsa. Meine Schwester macht dort gerade Urlaub mit ihrer besten Freundin.
Letztendlich bin ich froh, als wir wieder in Kato Diminio ankommen und den Urlaub ausklingen lassen. Ich hatte den Balkon schon vermisst.
Weil die Hinfahrt über den Autoput durch Jugoslawien mit etlichen Nahtodeserfahrungen eher traumatisch war, nehmen wir diesmal die Fähre von Patras nach Ancona. Bella Ialia! Einen Tag lang sehen wir uns Venedig an.
Als Nachtmensch übernehme ich danach das Steuer des klapprigen Passats. Richtung Trient, lautet die Ansage. Ich hab wohl nicht richtig zugehört. Während alle schlafen, schaukele ich das alte Schiff lässig nach Triest. Das sorgt am Morgen erst für schlechte Stimmung, bis die Nachrichten verkünden, dass es in der Region Trient in der Nacht ein Erdbeben gegeben hätte. Schulterklopfen. Gut gemacht. Und ein Sonnenaufgang in Miramar ist auch nicht verkehrt!
Fast zwei Monate habe ich in Griechenland gelebt. Ich habe mich dort mit dem Leben vermählt. Es hat mich nicht wieder losgelassen. Seither trage ich den Süden in mir.
Ein Jahr später fahre ich mit einem meiner besten Freunde ins Land der Sehnsucht zurück. Wir wohnen in der Villa in Kato Dimnio. Auf Zelten haben wir keine Lust. Also machen wir Epidauros, Mykene und Olympia jeweils als Tagestour. Wir freunden uns mit einer Malerin an, die nach ihrer Scheidung in Kato Diminio Zuflucht gesucht hat. Sie ist die deutlich attraktivere Version von Alexis Sorbas. Die Freunde aus dem Vorjahr in Athen werden natürlich auch besucht. Da mein Freund ein Wörtchen mitzureden hat und Anna sofort begeistert ist, findet das Saturday Night Fever diesmal in einer angesagten Disco statt.
Mittelpunkt des Lebens bleibt jedoch der Balkon über dem Golf von Korinth. Anna kommt zu Besuch. Orphelia ist jeden Abend da. Mein Freund wird später sagen, dass dies der schönste Urlaub seines Lebens war.
Wir reizen die Zeit bis zum letzten aus. Es ist schon September, als wir dann doch schweren Herzens die Fähre in Patras besteigen. Am frühen Morgen kommen wir in Ancona an. Mein Freund möchte Rimini, die Partymetropole, sehen. Eine ganz eigene Erfahrung. Rimini ist eine Geisterstadt. Menschenleer. Die Saison ist vorbei. So lenke ich meinen blauen Golf an einem grauen Morgen durch eine verlassene Stadt, vorbei an den verwaisten, endlosen Stränden des Massentourismus. Hat die Apokalypse stattgefunden, als wir in Griechenland waren? Und wir haben es nicht bemerkt? Das Licht einer kleinen Bar erscheint wie eine Erlösung. Wir trinken mit zwei alten Männern Espresso. Das Leben beginnt von vorn. Nachher sitzen wir im Nieselregen an einem grauen Strand und schauen auf ein graues Meer. Fabrizio di André singt: Rimini!
1991 mache ich Urlaub mit meiner Freundin im Garstnertal. Zum Schwimmen fahren wir zum Gleinkersee. Vom Seespitz aus,1574m hoch, ist die Wasserfläche ein dunkelblaues Herz in einem ovalen, smaragdgrünen Rahmen. Das Ufer fällt schnell steil ab. Hunderte Meter. Beim Rückenschwimmen rutscht mein Cartier - Ring in hohem Bogen vom Finger und versinkt.
Als ich zum Parkplatz gehe, um Taucherbrille und Flossen zu holen, treffe ich zwei Taucher, die gerade ihre Sauerstofflaschen präparieren. Ich schildere ihnen den Fall.
Die Frau findet den Ring tatsächlich. Er sei schon ziemlich tief gefallen. Eingesunken im Sediment, so eben noch zu sehen. Beim Auftauchen stößt sie zuerst mit dem Ring in der ausgestreckten Hand aus dem Wasser.
2005 knete ich den Ring unbemerkt in Brotteig ein und backe ihn. Am Morgen beißt mein Neffe, der bei uns auf dem Hof Urlaub macht, darauf, ohne sich zu verletzten.
Sag mir deinen indianischen Namen
Wenn wir zusammen am Küchentisch sitzen, reiche ich dir ein weißes Blatt Papier. Die Herausforderung: Schreibe ein Gedicht! Jetzt! Nicht denken, schreiben! "Aber, ...". Kein "Aber"! Alles, was du jetzt schreibst, ist ein Gedicht. Fang jetzt an. Du hast alle Zeit der Welt. Minuten, Stunden, Tage. Aber fang jetzt an.
Wenn du fertig bist, reiche ich dir ein zweites Blatt. Gibt dir einen indianischen Namen! Einen Namen mit einer Bedeutung. Ein Name, der ausdrückt, was dein Wesen ist, der sagt, wer du jetzt bist.
Wenn du einen Namen hast, darfst du die Gedichte und Namen all derjenigen anschauen, die es schon gewagt haben. Ein riesiger Stapel an Blättern. Das geheime Buch der Freundschaft.
Ich habe dich im Traum erkannt. Es ist eine der wilden Studentenparties. Nur findet sie auf einer großen Kreuzung unweit meines Geburtshauses statt. Mitten auf der Straße. Alle Freunde sind da. Es wird Nacht. Alle legen sich in Schlafsäcken auf den Asphalt. Alle schlafen. Nur wir stehen noch, einander gegebnüber, schauen uns an, etwas überrascht, erkennen uns. Wir tanzen eng umschlungen auf der Kreuzung. Zuhause!
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